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Ausgangspunkt eines 9955m langen Gedankens 

 

Wie aus der Distanz eine Arbeit für einen bestimmten Ort erarbeiten? Obwohl ich Informationen über das Quartier von Albisrieden in Zürich gesammelt hatte, war mir klar, dass ich die Realität des Quartiers nicht von meinem Schreibtisch aus begreifen konnte. Ich musste mich dieser Arbeit aus einem anderen Blickwinkel nähern. Als ich über das sokratische Zitat <<Ich weiss, dass ich nichts weiss>> nachdachte, realisierte ich, dass dieses Zitat einerseits eine Grenze dafür setzte, was ich genau in dem Moment wusste, dass es mir aber andererseits in dem Moment, in dem ich diese Grenze akzeptierte, erlaubte, diese gleiche Grenze zu durchbrechen oder besser gesagt, sie immer weiter zu verschieben, über das ‘Hier und Jetzt’ hinaus, um mir neue Betrachtungsmöglichkeiten auf diese Grenze zu ermöglichen. Es gab also eine Grenze zwischen dem, was ich über das Quartier wusste, und dem, was ich nicht wusste. Ebenso gab es auch eine Grenze zwischen dem, was ich im Hinblick auf das Quartier zu sein oder nicht zu sein glaubte. 

Aber was ist eine Grenze? Eine physische Präsenz, beziehungsweise eine natürlich oder künstlich gebildete Linie, die in der Lage ist, etwas oder jemanden abzugrenzen von etwas anderem aufgrund bestimmter Eigenschaften oder geografischer Festlegungen. So entstand die Idee, dass die Präsenz einer unsichtbaren Linie, die einen bestimmten Bereich der Stadt Zürich eingrenzt, durchbrochen werden musste, um verstanden zu werden. 

Die Philosophie lehrt uns, dass unser Denken keine Grenzen haben darf und dass das Denken uns erlaubt, Grenzen zu erkennen, nur um sie zu erweitern, bis sie verschwinden. Die Philosophie lehrt uns nicht, die Grenzen zu ignorieren. Ganz im Gegenteil. Sie lädt uns ein, sie denkend zu identifizieren, sie im Raum zu erkennen, in dem unsere Ideen Gestalt annehmen. Es sind also die Ideen, die die Grenzen erweitern, diese neu ziehen, sie überschreiten und ihren Widerstand messen. 

Ich beschloss, mich der Grenze von Albisrieden in vierfacher Weise zu nähern, um sie zu verändern: 

Erstens habe ich die Grenzen meiner Wohnung, die in dieser schwierigen Situation, mit der wir gerade alle einen Umgang finden müssen, mein Bewegungsradius war, verlassen, um mich nach Zürich zu begeben. Ich wollte erfahren, was diese Grenze des Quartiers für mich bedeutet.

Zweitens wollte ich die Grenzlinie von etwas rein Administrativem und Bürokratischem in etwas wirklich Physisches verwandeln und sie zu etwas physisch Vorhandenem machen. Ich habe die Anstrengung unternommen, die Grenze von Albisrieden in ihrem ganzen Umfang abzulaufen, sie zu überquere oder zu umgehen, wo es mir aus topographischen oder siedlungstechnischen Gründen unmöglich war, ihrem Verlauf auf der Karte, die mir die Stadt Zürich zur Verfügung gestellt hat, zu folgen.

Drittens, habe ich die Existenz der Grenze auf einer Karte eingezeichnet und ihre Anwesenheit durch Fotos dokumentiert. Die Grenze ist grösstenteils tatsächlich eine imaginäre Linie, die sich wie ein Ariadnefaden über eine Länge von 9,955 km durch die Stadt und über den Uetliberg windet. 

Viertens gibt es im besiedelten Gebiet des Quartiers tatsächlich eine physische Abgrenzung, die durch eine Reihe von Grenzpunkten (GP) bestimmt wird. Ich habe einen der Grenzpunkte in der klaren Absicht entfernt, die künstlich vorgegebene lineare Kontinuität zu durchbrechen, vor allem aber mit dem Ziel, das Wesen der Albisrieden-Grenze zu verändern. Die physische verankerte Grenze unterscheidet sich nun von der Grenze auf der Karte. Es ist genau diese Gemeinsamkeit von Präsenz/Abwesenheit, die mich auf ein viel umfassenderes und komplexeres Thema gelenkt hat: das Vergehen des Lebens und der Zeit und unsere Art, mit dem Tod umzugehen. 

Ausgehend von diesen Konzepten beschloss ich, dass der letzte Teil dieses Projekts, d.h. seine endgültige Realisierung, eine Auseinandersetzung mit dem Leben und dem Sterben sein soll. Ich schuf ein Grabmonument, das über der Grenze zwischen Albisrieden und Altstetten aufgestellt werden sollte. Es besteht aus einer Holzkiste und einer Betonplatte, auf der ein Schild angebracht ist mit der Aufschrift <<PUNTO D’ORIGINE DI UN PENSIERO LUNGO 9955m>> (dt. <<Ort des Anfangs eines 9955m langen Gedankens>>). Darunter wurde ein biologisch abbaubarer Hanffaden in einer Holzkiste vergraben, der die Grenze in seiner Gesamtlänge materiell ersetzt. Meine Absicht ist es, die Grenze zu entmaterialisieren, nicht ihre fiktive Präsenz auf den Landkarten, sondern die vielfältigen Bedeutungen von <<Grenze>>, <<abgrenzen>> und <<aufhören>>. Gleichzeitig erinnert die Gedenktafel und der Satz <<PUNTO D’ORIGINE DI UN PENSIERO LUNGO 9955m>> uns daran, dass diese Arbeit aus einer neuen Art des Denkens über die unsichtbaren Grenzen und Begrenzungen, die wir oft freiwillig oder unfreiwillig uns selbst oder unserer Umwelt setzen, “geboren” wurde.

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